Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin über Humanismus, Verantwortung und Urteilskraft im digitalen Zeitalter.
Warum ist Humanismus mehr als ein nostalgisches Ideal?
Das Zentrum humanistischen Denkens und humanistischer Praxis bildet das, was man als menschliche Autorschaft bezeichnen kann, also die menschliche Fähigkeit, ein Leben aus eigenen Gründen zu leben und dafür Verantwortung zu übernehmen. Damit das möglich ist, müssen die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sein: Bildung, Respekt, Solidarität. Dieses Ideal ist heute aktueller als je zuvor, und es ist herausgefordert durch Nationalismus, Rassismus und Militarismus.
Wie lässt sich individuelle Verantwortung in komplexen soziotechnischen Systemen wie KI-Systemen denken?
Die Digitalisierung birgt große Potenziale für eine Humanisierung der Arbeit und eine ökologische Transformation der Wirtschaft. Zugleich ist sie mit einer gefährlichen Verantwortungsdiffusion verbunden und mit einer Konzentration wirtschaftlicher und damit auch politischer Macht, wie sie nie zuvor realisiert war. Der Digitale Humanismus, eine Konzeption, die ich entwickelt und 2018 in Buchform vorgestellt habe, wirkt dem entgegen und hat unterdessen internationale Aufmerksamkeit gewonnen. Er möchte die Autorschaft von Produzenten und Konsumenten digitaler Instrumente stärken und zur Humanisierung der Arbeitswelt und der Kultur beitragen.
Welche Rolle spielt philosophische / humanistische Ethik in einer datengetriebenen Gesellschaft?
Die Rede ist ja oft von der „Wissensgesellschaft“, die sich aktuell entwickelt und die Zukunft der Menschheit prägen wird. Wissen aber ist mit Urteilskraft verbunden. Menschen benötigen Orientierungswissen, um sich in einer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden. Digitale Ethik im Geiste des digitalen Humanismus ist darauf die Antwort.