Ein Gespräch mit Julian Nida-Rümelin und Rudi Ballreich
Julian Nida-Rümelin und Rudi Ballreich führen am 30.10. bis 1.11.2024 gemeinsam einen Workshop an der Humanistischen Hochschule Berlin durch zum Thema: „Führung im Zeitalter von KI: Was braucht es zur Entscheidungsfindung in komplexen Situationen?“. Um was es ihnen dabei geht, machen sie in diesem Gespräch, geführt von Ruben Pfizenmaier, deutlich.
🌟Herr Ballreich, was ist Ihre Perspektive auf das Thema des Workshops, und welche Rolle werden Sie im Workshop einnehmen?
— RUDI BALLREICH: Ich bin Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Concadora GmbH. Wir unterstützen Organisationen in Transformationsprozessen. Die Kompetenzentwicklung der Führungskräfte spielt dabei eine besondere Rolle. Aktuell arbeiten wir an der Entwicklung von Trainingsmodulen, die Führungskräfte befähigen, künstliche Intelligenz sinn- und verantwortungsvoll beim Beurteilen von Situationen und beim Entscheiden zu nutzen. Dabei geht es einerseits um den intelligenten Umgang mit KI. Dazu gehören auch Techniken, wie man Anforderungen formuliert, d.h. wie man ganz konkret bei spezifischen Fragestellungen KI nutzen kann. Und andererseits sehen wir die grundsätzliche Notwendigkeit für Führungskräfte, die Fähigkeiten zur eigenständigen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zu entwickeln.
🌟Warum ist denn eigenständiges Urteilen und Entscheiden für die Nutzung von KI so wichtig?
— RUDI BALLREICH: Weil die schnellen und scheinbar klaren Antworten der KI dazu verführen können, Urteile ungeprüft zu übernehmen und auf dieser Grundlage ohne weitere Abwägungen zu entscheiden. Eigentlich ist das dann kein Entscheiden, sondern ein blindes Folgen der KI. Diese Haltung schafft im Alltag große Probleme, denn Führungskräfte müssen die Verantwortung übernehmen für ihre Entscheidungen und vor allem auch für die Folgen ihrer Entscheidungen. Wirklich verantworten kann ich eine Entscheidung nur, wenn ich die entscheidenden Gründe überschaue und dabei Kohärenz, bzw. Stimmigkeit erlebe. Dazu muss ich aber in die inneren Zusammenhänge meiner Gedanken eintauchen. Durch ein äußerliches Entgegennehmen der KI-Ergebnisse ist das nicht möglich. Kurz gesagt: die machtvollen Leistungen der KI erfordern die Steigerung der menschlichen Urteils- und Entscheidungskraft! Das sehe ich übrigens als ein generelles Thema in unserem Zeitalter der digitalen Transformation.
Ausgehend von dem Vorbild des Philosophen Sokrates, werde ich in dem Workshop Übungen zur Entwicklung dieser Fähigkeiten anleiten. Dazu gehört auch die Durchführung eines Entscheidungsprozesses unter Einbezug der KI.
🌟Herr Nida-Rümelin, wie ist Ihre Perspektive auf den Workshop „Führung im Zeitalter von KI“? Und welche Rolle werden Sie im Workshop einnehmen?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Es gibt für mich zwei Themen, die ich in die Gestaltung des Workshops ein-bringen möchte: Das eine ist die Klärung der Rolle der Rationalität für den Menschen generell, und speziell der Rationalität in der Lebenspraxis. Das andere ist die Kohärenz, die Stimmigkeit der Haltungen, der Einstellungen und der leitenden Gründe. Dabei sind für mich Methoden der Spieltheorie sehr wichtig, aber auch der Rückgriff auf die antike Philosophie.
🌟Und wie hängt das mit dem Einsatz von KI in unserer Gegenwart zusammen?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Die Wirkung der KI fordert dazu auf, die Rolle der Verantwortung in unserem Handeln zu klären. Denn es ist genuin menschlich, dass wir für unser Tun am Ende die Verantwortung tragen. Diese Verantwortung ist nicht delegierbar an Maschinen, auch nicht an hochentwickelte Maschinen, wie an Künstliche Intelligenz. Auch generative Künstliche Intelligenz ersetzt nicht diese Rolle menschlicher Verantwortlichkeit. Das ist ein zentraler Gedanke des Digitalen Humanismus, den ich vertrete. Digitaler Humanismus heißt nicht, dass durch die Digitalisierung der Humanismus ausbricht, sondern digitaler Humanismus sagt: Wir müssen die humanistischen Grundhaltungen stärken in diesem Prozess der digitalen Transformation. Wir müssen Menschen in ihrer Verantwortlichkeit, in ihrer Autorschaft – dass sie Autorinnen oder Autoren ihres Lebens sind – stärken.
Künstliche Intelligenz hilft uns, komplexe Entscheidungssituationen zu bewältigen. Aber es sind immer wir, die diese Bewältigung letztlich vollziehen können und müssen. Das ist nicht delegierbar, auch wenn man einzelne Aufgaben viel stärker als früher Maschinen, in dem Fall digitalen Maschinen, überlassen kann.
🌟Wie kommt die Philosophie im Workshop ins Spiel?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Im Workshop werden auch Schätze der Philosophie eine Rolle spielen, die zum Teil geschichtlich weit zurückreichen. Denn das Niveau der Klärung war in manchen Bereichen in der Antike höher entwickelt als heute. Daher meine Wertschätzung von Platon, Sokrates und dem sokratischen Ansatz. Damals vor fast 2.500 Jahren, begann die Aufklärung: Bediene dich deines eigenen Verstandes. Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Eben das geht letztlich auf Sokrates zurück. Das ist eine Herausforderung, eine Irritation der damals herrschenden Ordnung. Wir sind in der Lage, uns selbst und unsere Überzeugungen und Handlungspraktiken in Frage zu stellen, neu zu denken. Das Sich-selbst-Infragestellen gehört zu einer vernünftigen Lebenspraxis. Und auch die Bereitschaft, Standpunkte anderer Personen ernst zu nehmen und einzubeziehen, also Empathie. Ich spreche manchmal auch von einer Art Transzendenz-Erfahrung, die erforderlich ist. Man verlässt den eigenen Interessens- und Urteilsstandpunkt und lässt sich auf den Standpunkt einer anderen Person ein. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt fruchtbar kooperieren kann, und ohne Kooperation ist gemeinsame Praxis sehr, sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Die Kooperationsbereitschaft ist fundamental auch für den Erfolg in Unternehmen.
Herr Ballreich und ich ergänzen uns dabei gut, weil ich stärker aus der Theorie komme, auch aus der Theorie der Ökonomie, aus der Philosophie der ökonomischen Praxis, und Herr Ballreich sehr viel mehr Praxiserfahrung hat, wie es in Unternehmen zugeht, wo dort die Probleme liegen. Das verbinden wird in diesem Workshop.
🌟Welche Rolle spielt denn das Thema Digitalisierung in Ihrer Arbeit?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Ich bin seit 2019 Direktor am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. Dort leite ich auch ein Forschungsprojekt „Ethical Deliberation in Agil Processes“, also wie man ethische Abwägungen in agilen Managementprozessen berücksichtigen kann, speziell bei der Entwicklung von Software. Dieses Projekt ist recht erfolgreich und hat viel Interesse geweckt. Und ich bin außerdem Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin, die bei diesem Workshop mit der Concadora GmbH kooperiert.
🌟KI ist das Thema der Stunde, und mit der Marktreife von beispielsweise Large Language Models wie Chat GPT hat die Digitalisierung eine ganz neue Stufe erreicht. Sie haben den Bogen zur antiken Philosophie gespannt, können Sie das noch etwas plastischer machen, vielleicht ein konkretes Beispiel geben? Welchen Nutzen hat es für Führungskräfte, sich mit Themen der antiken Philosophie zu befassen?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Die antike Philosophie ist im Bereich Naturwissenschaft, Kosmologie und so weiter zwar sehr anregend, aber im Grunde überholt durch die moderne Physik. Im Bereich der praktischen Philosophie sind diese Themen aber Teil der Conditio humana. Wir fragen uns damals wie heute: Was macht ein gelungenes Leben aus? Wie kommt es überhaupt zu gemeinsamer Praxis? Was ist erforderlich, damit Menschen in der Lage sind, mit anderen gemeinsam etwas zu realisieren? Wir sind seit jeher – wir fokussieren jetzt mal auf die europäische Geistes- und Kulturgeschichte – davon überzeugt, dass wir unser Handeln rechtfertigen müssen, gegen-über Kritik in der Lage sein müssen, Gründe anzugeben für das, was wir tun. Was ist das überhaupt, Gründe angeben? Warum ist das Urteilen so wesentlich für das Entscheiden? Warum können wir nicht unmittelbar einfach Präferenzen erfüllen oder optimieren? Das ist ein uraltes Thema und die antike Philosophie hat da zum Teil Höhen erklommen, die wieder verlorengegangen sind.
🌟Welche philosophischen Ansätze sind dabei für Sie besonders wichtig?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Ich finde die Philosophie der Stoa für uns heute sehr anregend. Die stoizistische Philosophie der Antike ist übrigens auch zu einem großen Anteil Grundlage des christlichen Ethos. Ohne Stoa hätte es das christliche Ethos so nicht geben können. Die Stoa entdeckt die menschliche Würde. Es ist nicht das Christentum, sondern die Stoa. Sie entdeckt die Gleichheit, die Gleichrangigkeit aller Personen, unabhängig von Geschlecht oder Hautfarbe. Und sie entwickelt eine komplexe Theorie der Rolle von Emotionen und der Möglichkeit, mit Emotionen so umzugehen, dass sie die Vernünftigkeit der Praxis und der Lebensführung nicht behindert. Dieser stoizistische Beitrag ist von allergrößter Aktualität. Das erklärt auch das große Interesse an stoischem und stoizistischem Denken in der Gegenwart, weil wir gegenwärtig in einem ähnlichen Umfang von Unsicherheit, Orientierungsbedarf und tiefer existenzieller Erschütterung geprägt sind. Es hat sich ja sehr viel geändert in wenigen Jahren: Nicht nur dass auf einmal wieder Weltkriege möglich erscheinen. Dass es Konflikte gibt, die man längst für beerdigt gehalten hatte, dass die Demokratie gefährdet ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht einfach in Richtung Globalisierung und steigenden Wohlstand verläuft, sondern zum Teil in schweres Fahrwasser gerät. Das alles setzt Menschen voraus, die “ichstark” sind, um einen Begriff aus der Freud’schen Psychologie zu verwenden, oder stoizistisch gesagt, die das, was sie beeinflussen können, auch wirklich verantwortlich gestalten, in Kooperation mit anderen und im Einklang mit der regelgeleiteten sozialen und natürlichen Ordnung. Das ist die Hauptbotschaft der Stoa.
— RUDI BALLREICH: Da möchte ich gerne etwas anfügen, und zwar zu Sokrates. Denn Urteils- und Entscheidungskraft entwickelt sich nur, wenn man sie übt. Und für diese Übungsprozesse braucht es Vorbilder. Sokrates ist nach meinem Verständnis das Vorbild für diese Fähigkeiten. Der Philosophiehistoriker Gernot Böhme hat ein sehr inspirierendes Buch über Sokrates geschrieben (Der Typ Sokrates), in dem er Sokrates als eine anthropologische Innovation bezeichnet. Er meint damit, Sokrates brachte etwas ins Menschsein, was es vor ihm nicht gab. Denn Sokrates hat seine Mitbürger in Athen herausgefordert: Rechtfertige dich für das, was du denkst. Begründe deine Aussagen. Also nicht einfach: ich denke, was mir gerade in den Sinn kommt oder was ich von anderen gelernt habe, oder wie die Priester das sagen oder der Staat das sagt. Sokrates forderte dazu auf: Denke selbst! Übernimm Verantwortung für dein Denken, indem du einsichtig machen kannst, warum du so und nicht anders denkst.
In seinen Dialogen regte Sokrates seine Gesprächspartner auf dem Marktplatz von Athen an, ihr eigenes Denken wahrzunehmen und dabei die Qualität ihres Denkens zu überprüfen. Heute nennt man es Metakognition, wenn ich die Vorgänge im eigenen Bewusstsein anschaue und gezielt verbessere. Wenn man sich vorstellt, dass Führungskräfte nicht nur handeln, sondern die Denk- und Urteilsbildungsprozesse, die dem Handeln vorausgehen, wahrnehmen können und dafür geradestehen, dann wird die Wichtigkeit dieses Aufwachens im eigenen Bewusstsein deutlich. Im Umgang mit KI sind das entscheidende Fähigkeiten, denn sie ermöglichen es, im Bewusstsein die Inputs der KI wahrzunehmen und sinnvoll mit dem eigenen Denken zu verknüpfen. Die ständige Qualitätsprüfung bedeutet, fortwährend zu fragen und nach Kohärenz zu suchen. Das ist der Kern der Urteils- und Entscheidungskraft. Wenn es gelänge, das in der Führung immer mehr zu praktizieren, wenn „Management by Sokrates“ die Grundhaltung in der Führung wäre, dann würden an vielen Stellen andere Entscheidungen getroffen werden, nicht nur in Unternehmen, sondern auch bei den Führenden in der Politik!
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Sokrates ist ja auch geistesgeschichtlich oder philosophiegeschichtlich der Wendepunkt. Die Philosophie ab Sokrates befasst sich eben mit den menschlichen Angelegenheiten. Alles, was dann folgt, ist ohne Sokrates nicht denkbar. Sokrates hat den Wendepunkt vollzogen und die Philosophie völlig neu aufgestellt und im Grunde die Philosophie mit der Lebenskunst und mit der Lebenspraxis verbunden. Das war vorher so nicht der Fall.
🌟Ich möchte gerne noch den Blick auf die Herausforderungen von Führungskräften richten. Herr Ballreich, Sie sind seit Jahrzehnten als Unternehmensberater tätig, vor allem auch in der Führungskräfteentwicklung. Vor welchen Herausforderungen stehen gegenwärtig die Führungskräfte, gerade auch unter dem Stichwort KI? Welche Risiken, welche Probleme, aber vielleicht auch welche Möglichkeiten gibt es in der Praxis für Führungskräfte?
— RUDI BALLREICH: Viele Führungskräfte stehen heute vor der Herausforderung, mit enormem Druck umzugehen und dabei die Stressdynamik im eigenen Bewusstsein zu bewältigen. Denn in dem Moment, in dem in der Psyche starker Stress vorherrscht, werden die kognitiven Funktionen, die sich an stimmigen Gedanken, an Gründen, an Wahrhaftigkeit orientieren, abgeschaltet und Kräfte werden wirksam, die auf den Kampf um’s Überleben ausgerichtet sind: Kämpfen, Flüchten, Erstarren sind dabei drei Grundkräfte und Wut, Angst und Lähmung sind die dazugehörenden Emotionen. Wie sollen die Führungskräfte im Stress ihr Bewusstsein freihalten für klares Denken oder für die sokratische Überprüfung des eigenen Denkens, wenn diese Kräfte vor-herrschend sind? Ich will damit deutlich machen, dass die kognitive Intelligenz und auch die metakognitiven Fähigkeiten ergänzt werden müssen durch emotionale Intelligenz, die mit Stressemotionen und archaischen Überlebenstrieben umgehen kann. Das ist eine Grundvoraussetzung für den souveränen Umgang mit KI im eigenen Bewusstsein. Bei Beratungs- und Entscheidungsprozessen in Teammeetings kommt noch die sogenannte Gruppendynamik hinzu. Das heißt zur Bewältigung der sozialen Spannungen braucht es soziale Intelligenz, um den Gesprächsraum offen zu halten für die sogenannte kommunikative Vernunft.
🌟Wenn Führungskräfte mit der Stressdynamik emotional intelligent umgehen, wie können sie dann KI gut nutzen?
— RUDI BALLREICH: Sie können Vorschläge der KI gezielt nutzen, um sich Optionen vorschlagen zu lassen, Denk‑, Erklärungs- oder Handlungsoptionen, die neue Sichtweisen anregen. Dazu ist aber die Beherrschung der Angstdynamik und metakognitive Bewusstheit den eigenen Denkprozessen gegenüber notwendig: Welche Denk-Automatismen wirken gerade in mir? In welchem Kontext denke ich gerade? Braucht es hier eine Kontextüberschreitung oder einen neuen Kontext, den ich vielleicht definieren müsste? Ich glaube, Führungskräfte sind oft in Situationen, in denen Neues gefragt ist, während sie in einem alten Denken feststecken.
Noch etwas kommt hinzu: die herausfordernden Situationen für Führung sind meistens nicht durch einfaches Ursachen-Wirkungs-Denken zu verstehen. Es handelt sich um komplexe Gegebenheiten, die nur durch das Eintauchen in die vernetzen Zusammenhänge zu verstehen sind. Um zu den wirkenden Kräften oder den wirkenden Mustern zu kommen, braucht es ein Denken, das mehrperspektivisch und kontextbewusst ist.
🌟Herr Nida-Rümelin, Sie beschäftigen sich als Philosoph schon seit vielen Jahren mit dem Thema Digitalität und vor allem den Einfluss der Digitalisierung auf unsere Demokratie, auf unsere Gesellschaft, auf unserer Lebenswelt. Konkret gefragt: Wo stehen wir gerade, was KI und Führungsverantwortung angeht? Welche Möglichkeiten tun sich gerade auf und welche Risiken können Sie erkennen?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Was mich interessiert, ist das Grundlegende, nämlich: Was verändert sich für unser Selbstbild, für unser menschliches Selbstbild, für unsere Handlungspraxis durch den Einsatz von KI, durch die Interaktion mit KI? Wir sollten vorsichtig sein mit dem Begriff Künstliche Intelligenz. Taschenrechner bezeichnet heute kein Mensch mehr als künstliche Intelligenz. Es gibt unterschiedliche Verwendungsweisen in unterschiedlichen Disziplinen dessen, was Künstliche Intelligenz heißt. Die meisten sagen, naja, das ist dort, wo die Software selbst entwickelt wurde, sozusagen nicht top-down, sondern wo es bestimmte Input-Output-Algorithmen gibt, auf deren Grundlage dann neue Algorithmen entwickelt werden – die dann aber von außen niemand mehr durchschaut. Deswegen ist es etwas naiv, wenn die Europäische Kommission hier Transparenz fordert: Die Grundlage ist nicht mehr transparent und sie wird auch nicht transparent. Das ist eine Herausforderung im Umgang mit digitalen Technologien.
Ich glaube, wir stehen gegenwärtig an einer Art Weggabelung, die erst einmal eine rein kulturelle Frage zu sein scheint, die aber tief in die Alltagspraxis hineinwirken wird und in die ökonomische Praxis auch, nämlich: Wie interpretieren wir sogenannte Künstliche Intelligenzen? (Ich schreiben das immer mit großem K, weil ich überzeugt bin, dass es keine künstlichen Intelligenzen gibt. Ich verwende KI als Eigenname.) Interpretieren wir diese als Akteure, als Gegenüber, als Kooperationspartner? Oder als bloße Tools? Jetzt kann man sagen, es ist doch viel sympathischer, diese als Agenten, als digitale Akteure zu interpretieren, die uns vielleicht beraten, die im günstigsten Fall wohlwollend sind gegenüber den Menschen. Ja, Vorsicht: wenn sie wohlwollend sein kann, dann kann sie auch böswillig sein, und dann kommen die ganzen apokalyptischen Visionen, die auch leider so intelligente Leute wie der verstorbene Physiker Stephen Hawking vertreten haben, oder Elon Musk oder auch Sam Altman von Open AI, auch der Bestsellerautor Yuval Noah Harari. Die Angst, dass sich die KI mit bösen Absichten gegen den Menschen und sozusagen mit diktatorischen Zielen wenden könnte.
Aber das ist sachlich völlig ungerechtfertigt. Es gibt sehr starke philosophische Argumente, die deutlich machen, dass es dort, in der KI, keinen Willen gibt. Da ist niemand, da gibt es keine Intentionen, keine Einsicht, kein Wohlwollen, keine Böswilligkeit, da ist nichts, das ist alles nur – wenn auch auf höchstem Niveau – Simulation. Das sind Tools und deswegen sollten wir diese Tools auch so einsetzen, dass sie Menschen dienlich sind. Das ist von allergrößter Bedeutung, weil es einen großen Unterschied ausmacht, ob ich mit Maschinen kooperiere, ob ich mich ihnen anvertraue, ob ich all diese mentalen Einstellungen gegenüber digitalen Maschinen entwickle, die nur bei Menschen angemessen sind oder nicht. Was ist denn Chat GPT? Chat GPT ist ein hochentwickeltes, sehr komplexes, beeindruckend gut funktionierendes Sprachmodell, das probabilistisch konzipiert ist. Das heißt, es geht um die Wahrscheinlichkeit von Wortfolgen. Es funktioniert sehr gut, die Sprache ist sehr nah der menschlichen Sprache und man merkt wenig, dass dahinter keine tiefere Einsicht steht.
Insgesamt würde ich sagen: abrüsten, keine apokalyptischen Ängste! Chat GPT wird nicht zu großer Arbeitslosigkeit führen, da bin ich sicher, da habe ich starke Argumente. Chat GPT wird auch nicht der Einstieg sein in die Weltherrschaft der Künstlichen Intelligenz, sondern wir müssen lernen, vernünftig menschenzentriert mit diesem Tool umzugehen.
🌟Ich würde gern noch einmal auf den Workshop „Führung im Zeitalter von KI“ zu sprechen kommen. Sie haben beide gerade einen ganzen Strauß an Entwicklungsfeldern präsentiert, vom digitalen Humanismus über die Verheißungen und die teilweise fragwürdigen Labels, die der KI zugeschrieben werden. Herr Ballreich, Sie haben über Urteils- und Entscheidungsfindung gesprochen, über Metakognition und über die Anforderung, sich im eigenen Bewusstsein bewegen oder orientieren zu können, um mit Führungsverantwortung gelingend umgehen. Konkret: Was möchte der Workshop in die Welt bringen?
— RUDI BALLREICH: Wir werden in dem Workshop ganz praktisch an Problemlösungen arbeiten, also üben, praktisch tun. Und tun heißt in dem Fall, sich klarzumachen, dass ein Entscheidungsprozess nicht irgendwie in der Gegend herumwandert, sondern dass es ein paar Grundstrukturen gibt, die in jedem Problemlösungsprozess vorkommen und dass es sehr intelligent ist, diese Strukturen zu kennen und ihnen zu folgen. Zum Beispiel: Es gibt ein Problem. Ich muss mir klar-machen, was meine Fragestellung ist. Ich muss mir bewusst machen, wie ich die Situation wahrnehme, was die Daten‑, die Faktenlage ist und wie ich darüber denke. Was sind meine Erklärungen und wie komme ich bei den Erklärungen tiefer? Oft ist es bei komplexen Problemen geboten, systemisch zu denken und die wirkenden Muster zu erforschen. Wie ich die Situation verstehe, ist aber nur eine Sache. Die andere ist, was ich erreichen will, was meine Ziele, meine Absichten, meine Werte sind. Und dann: Welche konkreten Handlungsmöglichkeiten gibt es? Und welche Handlungsmöglichkeit passt am besten zu dem, was ich will, aber auch zu dem, wie ich die gesamte Situation beurteile? An jeder Stelle geht es um Kohärenz und Stimmigkeit.
Wenn ich lerne, KI gezielt in jedem dieser Phasenschritte und Bewusstseinsaktivitäten zu nutzen, dann heißt das Folgendes: Erstens, ich schaue auf die Situation: Informationsgewinnung, verstehen was los ist. Da kann ich KI an verschiedenen Stellen nutzen, kann fragen und mir Informationen anbieten lassen. Dabei stellt sich aber die Frage, ob ich dem vertrauen kann. Ist es kohärent, was ich da höre? Ich muss die Wachheit haben, und das ist Metakognition, dass die Informationen nicht korrekt sein könnten. Kann ich die Information in meinen inneren Klärungsprozess aufnehmen oder muss ich sie erst überprüfen? Zweitens: Bei den Erklärungsmustern kann ich mir ebenfalls Angebote machen lassen, Interpretationen, die ich einbeziehen kann in mein Denken. Aber es bin immer ich in jedem Moment, der die Stimmigkeit überprüfen muss: Passt diese Erklärung am besten zu dem, was ich über die Situation weiß? Genauso bei den Zielsetzungen.
Wir bei Concadora schauen uns gerade Tools an, die Führungskräfte nutzen können, wenn sie zum Beispiel als Teil eines Teams in einem virtuellen Meeting einen Problemlösungsprozess durchführen. Es gibt viele Tools und Apps, die in jeder Phase für die Informationsgewinnung, die Ausarbeitung der Ziele, Optionenentwicklung, Bewertung der Optionen und so weiter eingesetzt werden können.
Ich glaube, die nächsten Jahre werden wir uns in einem hochspannenden Feld bewegen. Kreative Nutzungsmöglichkeiten der digitalen Innovationen werden gefragt sein. Eine Hauptintention des Workshops ist es – und da bin ich mir mit Herrn Nida-Rümelin einig, – überprüfendes Fragen und ständige Suche nach Kohärenz in jedem Moment eines Entscheidungsprozess zu praktizieren. Ist der Gedanke, der da gerade geboren wird, lebensfähig oder nicht? Das ist quasi die so-genannte sokratische Hebammenkunst. Taugt das, ist es stimmig, ist es passend, ist eskohärent? Diese Fähigkeiten in den Führungskräften zu wecken, um mit KI souverän umgehen zu lernen ist ein Hauptmotiv und Ziel des Workshops.
🌟Herr Nida-Rümelin, wollen Sie direkt ergänzen?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Was es aus meiner Sicht zu bekämpfen gilt, sind zwei Fehlhaltungen, die in diesem sehr dynamischen Prozess der digitalen Transformation immer wieder auftauchen: Euphorie auf der einen, Apokalypse auf der anderen Seite. Das ist ein Muster, das in der Technikgeschichte schon immer gängig ist. Immer dann, wenn neue Technologien auftreten, sind die Menschen erstmal begeistert. Dann, vor lauter Begeisterung, merken sie, hoppla, das ist ja viel-leicht auch gefährlich. Dann sind sie fürchterlich erschrocken. Bei der Eisenbahn war die Vermutung, dass bei über 30 Stundenkilometern das Hirn aussetzen würde. Der Autobauer Henry Ford war der Meinung, dass mit dem Automobil der ewige Weltfriede ausbrechen würde, weil jeder mit jedem verbunden sein könne. Natürlich alles Quatsch. Der Weltfrieden bricht nicht wegen des Automobils aus und wir müssen unser Denken nicht einstellen, weil wir mit mehr als 30 Stundenkilometer unterwegs sind. Diese Neigung zur Euphorie und Apokalypse ist eine große Gefahr, weil es die vernünftige Steuerung, den kohärenten Einsatz von technologischen Optionen, behindert. Und dafür steht eigentlich der digitale Humanismus: für Mitte und Maß, in guter humanistischer Tradition.
🌟Ich verstehe, dass der Workshop Theorie und Praxis zusammenbringen möchte. Einerseits geht es darum, die größeren Entwicklungen zu reflektieren, auch mit der nötigen Ruhe und Objektivität zu betrachten und konkreter zu sehen, was wirklich passiert. Gleichzeitig geht es darum, dass der Workshop auch Fähigkeiten und Kompetenzen vermitteln möchte, konkret auf den Alltag in Führungssituationen bezogen. Zu den Formaten gefragt, wie wird der Workshop gestaltet sein? Was können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwarten?
— RUDI BALLREICH: Wir tauchen tief ein in die Auseinandersetzung mit dem eigenen Bewusstsein. Verstehen, was die Bedeutung des Begründens ist, und – das ist das Wichtige – nicht nur be-gründet denken, sondern das Wahrnehmen des Begründens und des Überprüfens. Das ist die Frage der Kohärenz, also dieses Grundverständnis zu entwickeln, das wäre eigentlich die Pflicht von Führung. Platon war ja der Meinung, es könnten nur Menschen, die diese Fähigkeit besitzen – das waren damals eben nur die Philosophen – wirklich führen. Ich glaube, dieser Gedanke gilt heute noch. Dieses Bewusstsein im Umgang mit KI gilt es zu wecken.
Das andere ist ganz praktisch: Was sind die Grundstrukturen und Hauptschritte von Entscheidungsprozessen, und was habe ich in jeder Phase konkret zu tun in meinem Geist, mit meinen Fragen, mit meinem Denken? Und wie kann ich in diesem Prozess KI nutzen? Wie kann ich mir durch KI Anregungen und Informationen holen, sodass mein innerer Prozess bereichert wird?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Vielleicht kann man die wichtigsten Stichworte aus unserem Programm nennen. Es ist einmal in der Tat die Herausforderung der Komplexität, also entscheiden in komplexen Situationen, da werden wir auch ein bisschen Entscheidungstheorie miteinbeziehen. Dann das Thema Metakognition, das Herr Ballreich ja schon angesprochen hat. Die Rolle von Verantwortlichkeit, also Verantwortung der Person, die entscheidet. Dann auch der Rückgriff auf die Tugendethik – Platon, Sokrates – und schließlich im letzten Teil fokussiert auf Digitalisierung. Wir werden dann auch über das, was ich digitalen Humanismus nenne, ein bisschen eingehen, um das zu verstehen. Was heißt es denn, Kohärenz herzustellen in solchen Situationen? Welche Rolle kann dabei KI in Urteilsbildungsprozessen spielen? Das ist so etwa das Programm, und unsere Hoffnung ist es, dass diese Komplexität des Themas sich auch in der Komplexität unserer Workshopgestaltung abbildet und wir damit auch Orientierung geben können.
🌟Was können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwarten, wird es Raum für Austausch geben, wird es Best-Practice-Beispiele geben?
— RUDI BALLREICH: Es wird um tiefgehende Einsichten in das Menschsein in Führungssituationen gehen. Tiefgehende Einsichten darüber, was es heißt, im Führungsalltag sein Menschsein gut zu leben, oder einfach gesagt: seinen Job gut zu machen. Gleichzeitig gibt es praktische Tools, Schritte, Handwerkszeug beim Entscheiden. Es wird auch Fallbeispiele geben, also im Sinne von Best-Practice-Berichten. Ja, aber die Hauptsache ist eigentlich, Anregungen, Inspiration zu bekommen. KI bietet eine Chance, und lasst uns die Chance gut nutzen, in dem Sinne, dass sie wirklich hilfreich ist und die eigene Führungsfähigkeit, aber auch das Menschsein weiterentwickelt.
🌟Herr Nida-Rümelin, an wen richtet sich dieser Workshop, wer wird von der Teilnahme an diesem Workshop profitieren können?
— JULIAN NIDA-RÜMELIN: Hoffentlich alle, die dabei sind. Vielleicht kann ich das ergänzen, was Herr Ballreich gesagt hat unter Bezugnahme auf einen humanistischen Denker, nämlich Wilhelm von Humboldt. Der hatte die bahnbrechende Grundidee, dass die Beteiligung an Forschungspraxis, an wissenschaftlicher Rationalität, von größter praktischer Relevanz ist. Humboldt war nicht der Meinung, dass die Leute, die studieren, Professorinnen und Professoren werden sollten, sondern er war der Meinung, dass die Konfrontation mit tiefem Nachdenken, das Bemühen um gedankliche Klarheit, die Wahrheitsorientierung, eine Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht, also die eigene Persönlichkeit stärkt und entwickelt. Und dass man dadurch in der Lage ist, Verantwortung in wirtschaftlichen, in administrativen, in politischen Zusammenhängen zu über-nehmen. So sehe ich auch meinen Beitrag zu diesem Workshop. Gedankliche Klarheit ist von größter praktischer Relevanz und wir bemühen uns um gedankliche Klarheit in diesem Workshop.
Ich danke Ihnen beide für das anregende Gespräch.
Mehr Informationen zum Workshop „Führung im Zeitalter von KI: Was braucht es zur Entscheidungsfindung in komplexen Situationen? “ erhalten Sie hier.