Humanismus heute: Über Sinn und Zweifel in der Gegenwart

Beim folgenden Text handelt es sich um die schriftliche Fassung eines Vortrags, den der Autor beim Festakt zum 30-jährigen Jubiläum des Humanistischen Verbandes Deutschlands am 24. Juni 2023 in Neu-Isenburg hielt. In drei Panels stand die Frage nach Lebenssinn aus humanistischer Haltung zur Diskussion, wobei jeweils verschiedene Zeitdimensionen den Ausgangspunkt bildeten: Vergangenheit, Zukunft und – im vorliegenden Beitrag – Gegenwart.

Große Fragen

Nicht nur in kri­sen­ge­schüt­tel­ten Zeiten fra­gen Menschen nach Sinn – nach dem Sinn des eige­nen Handelns, der per­sön­li­chen Überzeugungen, Wünsche oder Befürchtungen, aber auch nach dem Sinn des Ganzen: Wo steu­ert die Menschheit hin? Gibt es über­haupt etwas, das uns Menschen, über alle Grenzen hin­weg, ver­bin­det? Was wäre ein wün­schens­wer­ter Entwurf, viel­leicht sogar eine Utopie mensch­li­chen Zusammenlebens? (Auch das ist eine der gro­ßen Sinnfragen.) Solche Sinnfragen stel­len heißt: die Perspektive wei­ten, aus dem Tagesgeschäft auf­tau­chen. Man sucht dann nach etwas von Bedeutung; nach etwas, wofür es sich zu leben, zu enga­gie­ren lohnt, manch­mal auch zu kämp­fen. Der Blick rich­tet sich nach vor­ne, auf eine Erwartung an Zukünftiges, auf Wünsche und Idealvorstellungen.

Sinnfragen trei­ben aber nicht nur uns Erwachsene um. Schon für Kinder sind Fragen des Lebenssinns aus­ge­spro­chen bedeut­sam. In der schö­nen Rubrik ‚Kleine Menschen, gro­ße Fragen‘ im Philosophiemagazin ant­wor­te­te neu­lich Alina, 8 Jahre alt, auf die Frage: „Wohin wür­dest du rei­sen, wenn du eine Zeitmaschine hät­test?“ fol­gen­der­ma­ßen: „Zum letz­ten Tag mei­nes Lebens. Ich wür­de näm­lich ger­ne wis­sen, ob ich ich selbst geblie­ben bin.“[1]

In die­ser Antwort ist schon aller­hand Sinn unter­stellt. Alina, so dür­fen wir spe­ku­lie­ren, möch­te sich am Ende ger­ne treu geblie­ben sein. Sie möch­te ihre eige­nen Überzeugungen im Laufe des Lebens nicht ver­ra­ten haben. Vielleicht hat sie so etwas schon bei ande­ren Menschen beob­ach­tet: dass sie irgend­wann, schlei­chend, ihre Ideale über Bord war­fen. So möch­te Alina jeden­falls nicht wer­den. Und des­halb hofft sie eben sehr dar­auf, sie selbst zu blei­ben.

Nun ist das mit dem Wunsch nach Identität eine ziem­lich ver­track­te Sache. Geht das über­haupt, ein und die­sel­be Person blei­ben, ein Leben lang? Kann es nicht manch­mal sogar wün­schens­wert sein, ein ande­rer Mensch zu wer­den? Bin ich heu­te noch der, der ich vor 30 Jahren war? Mit dem Problem von Identität und Veränderung im Leben hängt jeden­falls die Sinn-Thematik eng zusam­men. Das macht Alinas Gedankenexperiment, ihre fik­ti­ve Reise in die Zukunft, deut­lich. Was Alina dabei umtreibt, ist näm­lich eine sehr erns­te Frage: Hat mein Leben am Ende, wenn ich Bilanz zie­he, einen Sinn gemacht?

Je älter wir wer­den, des­to rea­ler wird ein sol­cher Modus des Rückblickens, des­to weni­ger ist es ein blo­ßes Gedankenexperiment. Greifbar wird das an einem Buch, des­sen Lektüre mich sehr berührt hat. Geschrieben hat es die 96-jäh­ri­ge Etel Adnan, liba­ne­sisch-ame­ri­ka­ni­sche Malerin und Schriftstellerin, kurz vor ihrem Tod 2021. Titel: Die Stille ver­schie­ben — im Original Shifting the Silence. In die­sem Essay vol­ler poe­ti­scher Bilder blickt Adnan von ihrer Terrasse in einem klei­nen Ort in der Bretagne auf den Atlantik. Dabei zie­hen Eindrücke der Gegenwart vor­bei, aber auch Erinnerungen aus ihrem lan­gen Leben. Eindrücke vol­ler Schönheit und zugleich von Angst und Grauen; phi­lo­so­phi­sche Reflexionen und Gedanken zum Zeitgeschehen. Inmitten der schmerz­li­chen Erfahrung eige­ner Vergänglichkeit und Hinfälligkeit fin­den sich zahl­rei­che Einsprengsel klei­nen Glücks. Momente, die das Leben lebens­wert erschei­nen las­sen. Etwa, wenn Adnan sicht­lich ergrif­fen erzählt, wie sie den „Tanz der Glühwürmchen“ beob­ach­tet, „die um die Boote in der Bucht krei­sen“.[2] — Wie aus hei­te­rem Himmel jedoch holt uns die bedroh­li­che Realität ein, wenn es unver­mit­telt nach sol­chen Glücksschilderungen etwa heißt: „Wir erle­ben die letz­ten Tage der Zivilisation, wie wir sie ken­nen. Durch die Scheiben des Apartments beob­ach­te ich den Ozean. […] Das Radio sagt, Paris erle­be eine Hitzewelle. Die Temperatur soll auf vier­zig Grad stei­gen. Das ist tro­pi­sches Wetter, und nichts garan­tiert uns, dass die Hitze nicht wei­ter zunimmt. In der Bretagne ist es sogar noch hei­ßer. Die Fische rufen um Hilfe. Wie ich, so oft in die­sen Tagen.“[3]

Ihr nahen­des Lebensende wird zum Sinnbild für den Zustand der Welt. In Adnans Rückblick auf ihr eige­nes Leben gerät die Sinnfrage unter nega­ti­ve Vorzeichen: Angesichts der Klimakrise, die sich in zahl­rei­chen Unwetterkatastrophen immer deut­li­cher zeigt, ver­mel­det sich in Adnans Essay ein nagen­der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eige­nen Tuns: „Und war­um schrei­be ich dann die­se Zeilen, die der Welt nicht viel brin­gen? Eins von den Dingen, die Menschen tun, nichts wei­ter. In jedem von uns steckt der ver­bor­ge­ne Glaube, irgend­wie zu zäh­len, so wie wir sagen Black Lives Matter. Das stimmt.“[4]

Der tief­grei­fen­de Zweifel, der sich in Adnans Worten äußert, scheint rück­bli­ckend den Lebenssinn frag­wür­dig zu machen. Keine Spur von Zuversicht, wie wir sie bei Alina unter­stel­len durf­ten. Schließen sich Sinn und Zweifel also gegen­sei­tig aus? Kann man nur ent­we­der zwei­feln oder einen Sinn fin­den? — Gehen wir die­ser Frage im Folgenden ein­mal nach.

Verhältnis von Sinn und Zweifel 

Zweifel, der in einem auf­steigt, wird häu­fig als stö­rend wahr­ge­nom­men. Bitte nicht, denkt man dann, ich habe gera­de zu tun, ich muss mich kon­zen­trie­ren, ich habe noch eine Liste an Erledigungen abzu­ar­bei­ten. (Sie alle ken­nen ver­mut­lich ein sol­ches Gefühl.) Der Zweifel kommt einem da nur in die Quere. Er steht plötz­lich im Weg, erscheint als Verhinderung oder Ablenkung.

Trotzdem: es ist nicht nur voll­kom­men ver­ständ­lich, dass Menschen immer wie­der ins Zweifeln gera­ten. Mehr noch, Zweifeln ist eine zutiefst mensch­li­che Fähigkeit. Wir kön­nen uns sogar glück­lich schät­zen, dass wir über die­se Fähigkeit ver­fü­gen. Der Zweifel gehört gewis­ser­ma­ßen zur con­di­tio huma­na – zu dem, was uns über­haupt erst zu Menschen macht. Zweifeln bedeu­tet näm­lich auch: Dort, wo es not­wen­dig ist, miss­trau­isch zu sein; sich an einer Sache stö­ren, einer zwei­fel­haf­ten Aussage nicht über den Weg trau­en, also Begründungen und Argumente ein­for­dern. Kurzum, Zweifeln bedeu­tet auch kri­ti­schen Vernunftgebrauch. Solche gesun­de Skepsis ist der Nerv der eige­nen Urteilskraft.

Selbst der exis­ten­zi­el­le Zweifel hat so noch einen Sinn: Wer ange­sichts von Katastrophen nicht viel­leicht sogar gele­gent­lich in Verzweiflung gerät, der scheint weder empa­thie­fä­hig noch ver­trau­ens­wür­dig. Ist es nicht tröst­li­cher, wenn jemand die unge­schmink­te Wahrheit sagt, als wenn fal­sche Hoffnungen gemacht wer­den, fal­scher Trost gespen­det wird? Das zwingt kei­nes­wegs zur Resignation. Aber es kuriert viel­leicht von Allmachtsphantasien. Etel Adnans Nachdenken über den Sinn oder auch die Sinnlosigkeit ihrer lite­ra­ri­schen Worte in einer kri­sen­haf­ten Zeit brin­gen das scho­nungs­los auf den Punkt. Zweifeln ist hier gleich­be­deu­tend mit Unterbrechen und Innehalten. Wir sind genö­tigt, nach­zu­den­ken: Wie geht es wei­ter, wie soll es wei­ter­ge­hen? Was kann ich tun, wel­che Anstrengungen müs­sen wir gemein­sam unter­neh­men? (Welches ‚wir‘ über­haupt?) — Auch wenn man sel­ten unmit­tel­ba­re Antworten auf Fragen wie die­se parat hat, sind sol­che skep­ti­schen Fragen der ers­te Schritt in eine ver­än­dern­de, ver­bes­sern­de Praxis.

Skepsis gehört zum Humanismus also zwei­fels­oh­ne dazu. Zweifel und Sinn bil­den hier gewis­ser­ma­ßen zwei Seiten einer Medaille. Fragt Humanismus nach einem Sinn, dann möch­te er kei­ne bloß erbau­li­chen, ver­trös­ten­den Antworten geben. Vielmehr möch­te er Handlungsmöglichkeiten suchen und eröff­nen. Gleichzeitig ist Zweifel aus die­ser Perspektive aber nur dann ein ver­nünf­ti­ger und gerecht­fer­tig­ter, wenn er nicht nihi­lis­tisch wird, also allen Sinn kom­plett durch­streicht. Um es mit Wittgenstein zu sagen: „Ein Zweifel, der an allem zwei­fel­te, wäre kein Zweifel.“[5] Das bedeu­tet: wer alles anzwei­felt, ver­liert den Maßstab für berech­tig­ten Zweifel. Gegenwärtige Verschwörungsideologien, die es ja auch mit Blick auf die Klimakrise gibt, sind ein sehr bered­tes Beispiel des­sen.

Obgleich man sinn­vol­len und wahn­haf­ten Zweifel unter­schei­den muss, so kann selbst der ver­nünf­ti­ge Zweifel gele­gent­lich aufs Ganze gehen.

Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft

Damit kom­me ich noch ein­mal zu Alina, unse­rer jun­gen Zeitreisenden. Und zu der Frage, ob aus dem Wechselspiel von Sinn und (fun­da­men­ta­lem) Zweifel nicht auch eine Perspektive der Zuversicht resul­tie­ren kann. Auch bei der 8‑jährigen Alina – wir erin­nern uns: sie woll­te an ihren letz­ten Lebtag rei­sen, um zu sehen, ob sie die­sel­be geblie­ben ist – auch in Alinas Wunsch war schon ein lei­ser Zweifel zu ver­neh­men, ob sie denn wirk­lich sie selbst blei­ben wird. Vielleicht zwei­felt Alina aber nicht nur an ihrem indi­vi­du­el­len Lebensweg, son­dern, weit­aus fun­da­men­ta­ler, auch dar­an, wie die Welt um sie her­um am Ende ihres Lebens wohl aus­se­hen mag; ob die Erde über­haupt noch ein für Menschen bewohn­ba­rer Ort sein wird.

Kinder heu­te, davon zeugt die Bewegung Fridays for Future, haben ein ziem­lich erwach­se­nes Bild ihrer Zukunft – und damit mei­ne ich eine sehr ernüch­ter­te Vorstellung. Sie sehen ihre Zukunft in extre­mer Gefahr, füh­len sich ihrer Möglichkeiten beraubt. Neben die­sem tief­grei­fen­den Zweifel liegt im Engagement für eine bes­se­re Zukunft aber zugleich auch eine star­ke Hoffnungsperspektive: Mit gro­ßer Kraftanstrengung lie­ße sich ‚das Ruder noch ein­mal her­um­rei­ßen‘, lie­ße sich die Zukunft noch ret­ten. Ohne die­se Zuversicht bräuch­te man nicht für ein bes­se­res Klima auf die Straße zu gehen.

Sich um die Zukunft Gedanken und Sorgen machen, also zumin­dest in der Vorstellung auf Zeitreise zu gehen, das gehört eben­so zum Menschsein, wie skep­ti­sches Denken. Solche Zukunftsaussichten schwir­ren aber nicht im luft­lee­ren Raum, sie sind mit Erinnerungen an die Vergangenheit gesät­tigt. Und zwar so: Wir haben bestimm­te Erwartungen, wie es mit uns Menschen auf unse­rem Planeten wohl wei­ter­ge­hen könn­te, auch wenn wir das natür­lich nicht abschlie­ßend vor­her­sa­gen kön­nen. Solche Erwartungen haben wir jeden­falls, weil wir um die Vergangenheit wis­sen. Noch ein­mal kon­kret: Alinas Generation und Fridays for Future haben schon gelernt, dass die Anstrengungen der Vergangenheit bis­lang bei wei­tem nicht aus­ge­reicht haben, um die Klimakatastrophe abzu­wen­den. Ihre Sorge um die Zukunft erweist sich des­halb als gerecht­fer­tigt. Konsequenzen aus sol­chen geschicht­li­chen Erfahrungen zu zie­hen, um es bes­ser zu machen, das kann man aller­dings immer nur in der jewei­li­gen Gegenwart. Und dar­um drängt die Jugend heu­te so sehr auf schnel­les Handeln in Sachen Klima. Jetzt – und nicht irgend­wann.

Dass es in unse­rer Gegenwart auf gemein­sa­me Kraftanstrengungen, auf poli­ti­sches Engagement und auf das Handeln ankommt, weil Geschichte eben kei­nen auto­ma­ti­schen Fortschritt zum Besseren bedeu­tet, das erfah­ren wir in vie­len Hinsichten. Unbestreitbar, dass es sogar immer wie­der gro­ße Rückschritte gibt. Man den­ke nur an all die rechts­po­pu­lis­ti­schen Bestrebungen, erreich­te Freiheiten in punc­to Lebensweisen wie­der rück­gän­gig zu machen; oder aber an Rückschritte in Sachen sozia­ler Gerechtigkeit. Um zukünf­ti­ges Unheil abzu­weh­ren, die Welt zu einem mensch­li­che­ren Ort zu machen, hilft gera­de des­halb der Blick in die Vergangenheit. Wir sind ja kei­nes­wegs allein. Es gab schon vor uns Menschen, die sich enga­giert haben für Gerechtigkeit, für Freiheit, für ein aus­kömm­li­ches Verhältnis von Mensch und Natur und so wei­ter. Und von sol­chen Erfahrungen kön­nen wir ler­nen. Die Zuversicht besteht dann dar­in, bis­lang unein­ge­lös­te Zukunftshoffnungen zu ver­wirk­li­chen. Aber nur im Handeln von uns jetzt Lebenden kann das Projekt einer Humanisierung der Welt wei­ter­ge­führt wer­den.

Klimakrise

Die nicht ohne ein Minimum an Zuversicht mög­li­che Perspektive der Humanisierung möch­te ich nun noch ein­mal an der Klimafrage ver­deut­li­chen. Es klingt viel­leicht para­dox, aber gera­de an der Klimakrise wird sich erwei­sen, ob eine Humanisierung der Welt zukünf­tig gelingt. ‚Natur‘ als sol­cher ist es näm­lich ziem­lich gleich­gül­tig, wie es wei­ter­geht. Irgendwie wird sich Leben immer durch­set­zen, irgend­wel­che Arten wer­den sich anpas­sen kön­nen – und sei­en es nur Mikroorganismen, die eine neue Evolution in Gang set­zen. Es ist aber ein zutiefst mensch­li­ches Interesse, dass die Welt eine auch für Menschen lebens­wer­te und über­haupt bewohn­ba­re bleibt. Dazu gehört auch eine arten­rei­che, viel­fäl­ti­ge Natur. Nicht nur als blo­ße Lebensgrundlage. Sondern auch, weil ein aus­schließ­lich von Monokulturen und Industrie über­zo­ge­ner, erhitz­ter Globus eine ziem­lich trost­lo­se, wenig lebens­wer­te Umwelt für uns wäre. In den letz­ten Jahren hat sich für das von Menschen ver­wüs­te­te Erdzeitalter der Name ‚Anthropozän‘ durch­ge­setzt. Das bedeu­tet: prak­tisch über­all auf der Welt sind Spuren mensch­li­cher Naturausbeutung und Zerstörung nach­weis­bar. Anthropozän, das ist für mei­ne Begriffe aller­dings ein Euphemismus. Denn es sind ja kei­nes­wegs mensch­li­che – und damit mei­ne ich: men­schen­wür­di­ge – Ursachen, die zur Naturzerstörung geführt haben. In Abgrenzung zum Begriff des Anthropozäns wur­de aus die­sem Grund vor­ge­schla­gen, bes­ser von einem „Kapitalozän“ zu spre­chen.[6] Demnach sei­en es ganz bestimm­te Formen mensch­li­cher Tätigkeit, die für die genann­ten Verhältnisse ver­ant­wort­lich zu machen sind: Nämlich eine auf Gewinnmaximierung und ste­ti­ges Wachstum aus­ge­rich­te­te Ökonomie.

Ob man die­ser These nun zustimmt oder nicht: Fest steht, dass die mensch­ge­mach­te Erderwärmung mit ihren ver­hee­ren­den Folgen eine gesell­schaft­li­che und glo­ba­le Herausforderung dar­stellt, die sich weder allein durch indi­vi­du­el­les Verhalten noch bloß tech­no­lo­gisch bewäl­ti­gen lässt. Es müss­ten sich auch die gesell­schaft­li­chen Bedingungen ändern, die die Krise her­vor­ge­ru­fen haben: statt Wachstum um des Wachstums wil­len müss­te es ande­re Ziele mensch­li­chen Wirtschaftens und Handelns geben, um die Krise ‚nach­hal­tig‘ zu über­win­den.

Notbremse

Walter Benjamin sprach ein­mal davon, dass die zer­stö­re­ri­sche Ökonomie unge­brems­ten Wachstums kei­nes natür­li­chen Todes ster­ben wer­de. Anders gesagt heißt das: es kommt auf die Menschen an, etwas dar­an zu ändern. Eine mensch­li­che­re Welt ergibt sich nicht von allein. — Es war eben­falls Walter Benjamin, der ein Bild dafür fand, wie die Menschen das Heft des Handelns zurück­ge­win­nen könn­ten, wenn die Ereignisse in dra­ma­ti­sche Richtung zu lau­fen dro­hen: dann emp­fiehlt er poli­ti­sches Handeln als Griff zur Notbremse.[7] Ob aktu­el­le Formen des Klimaprotest – Stichwort: ‚Klimakleber‘ – in die­sem Sinne zu beur­tei­len sind, möch­te ich offen­las­sen. Ich muss geste­hen, dass ich in die­ser Frage selbst rat­los bin.

Das Bild der Unterbrechung führt mich aber zurück zur Bedeutung, die das Innehalten hat, wenn wir die gro­ße Frage nach Sinn stel­len. Wenn man nicht wei­ter­weiß, wenn der Sinn frag­lich wird, dann hilft es manch­mal, aus der all­täg­li­chen Betriebsamkeit aus­zu­stei­gen – und die Aufmerksamkeit ganz auf den Augenblick zu rich­ten.[8] Ein sehr poe­ti­sches Bild hier­für fin­det Etel Adnan in ihrem Essay Die Stille ver­schie­ben. Dort schreibt sie: „Die Energie der Welt zeigt sich an die­sem beson­de­ren Tag in den Gezeiten: Die längs­te Flut seit Jahren, hieß es, und ich beob­ach­te­te sie, ehe sie sich zurück­zog. Ich saß am Rand der ein­zi­gen lan­gen Straße [des Dorfes], ganz nah beim Ozean, und schau­te und schau­te auf die Meerenge, wo das stei­gen­de Wasser zu einem Fluss wur­de, das tie­fe leuch­ten­de Grün von Pinien annahm, auf die Dünen zuroll­te, mei­ne Sinne fort­trug. Es lohnt sich, für einen Augenblick wie die­sen [zu leben]“.[9]

Irgendwo aufs Meer bli­cken und das Spiel von Ebbe und Flut beob­ach­ten; viel­leicht auch ein­fach nur einem Sommerregen oder einem Mozart-Konzert zuhö­ren; das gute Essen mit Freunden (Sie haben jetzt viel­leicht selbst noch jeweils eige­ne Bilder glücks­er­füll­ter Augenblicke im Kopf) — in Momenten wie die­sen lie­gen Sinn und Lebensfülle.

Humanismus: Engagement für eine Gesellschaft mit Sinn

Dass es viel zu weni­ge sol­cher Augenblicke in unser aller Leben gibt, weil zu oft die Zeit dafür fehlt; und dass bei­lei­be nicht alle Menschen ent­spannt am Meer sit­zen kön­nen, weil sie in Sorge und Not leben, weil sie auf der Flucht sind, weil die kli­ma­be­dingt stei­gen­den Fluten ihre Lebensorte weg­rei­ßen wer­den – all das zeigt: Es bleibt eine drän­gen­de, unab­ge­schlos­se­ne Aufgabe, die Welt zu Humanisieren. Viel zu oft wären über­haupt erst ein­mal die basals­ten Bedingungen dafür her­zu­stel­len, dass Menschen ihrem Leben ernst­haft Sinn geben kön­nen – selbst­be­stimmt und glücks­er­füllt. Wer Hunger lei­det oder auf der Flucht ist, wird hin­ge­gen aufs nack­te Überleben zurück­ge­wor­fen.

Schon immer hat es sich der prak­ti­sche Humanismus zur Aufgabe gemacht, die mensch­li­chen Verhältnisse in die­ser Hinsicht zu ver­bes­sern. Er arbei­tet unnach­gie­big an einer Gesellschaft mit Sinn.[10] Nicht immer, da soll­ten wir uns kei­ne Illusionen machen, sind huma­nis­ti­sche Akteure dabei in vor­teil­haf­ter Position. Gesellschaftliche Gegenkräfte und Widerstände wer­den wir alle zur Genüge ken­nen …

Dennoch ist es nie ver­ge­bens, sich um die prak­ti­sche Verbesserung der mensch­li­chen Welt zu bemü­hen. Und zwar beson­ders dort, wo wir es eigent­lich immer ver­mö­gen, so stark auch der gesell­schaft­li­che Gegenwind sein mag: im täg­li­chen Handeln. Hier nen­ne ich nur eini­ge Beispiele, in denen der orga­ni­sier­te Humanismus des Humanistischen Verbandes bun­des­weit tätig ist: in päd­ago­gi­schen Kontexten wie Kindergärten und Schulen, im Bereich von Kultur, Bildung und Forschung, in der Lebensberatung, der huma­nis­ti­schen Seelsorge, in medi­zi­ni­schen Einrichtungen und in der Vorsorge und Pflege, in der Flüchtlingshilfe, in der Jugendarbeit, im poli­ti­schen Engagement und so wei­ter. (Die Übersicht über die Aktivitäten der ein­zel­nen Verbände inner­halb des HVD ist wirk­lich beein­dru­ckend lang …)

Sinngebung kann sich in all die­sen Feldern aber nur zei­gen, wenn wir nicht von den Aufgaben des Tagesgeschäfts voll­kom­men absor­biert und auf­ge­zehrt wer­den. Sinngebung braucht immer Zeit, eine Perspektive, die über den Moment hin­aus­reicht. Sie braucht den Rückblick und den Ausblick.

Blicken wir, im Wissen um die Vergangenheit, vor­aus, dann ist nur dies gewiss: Die Zukunft ist offen. Wir kön­nen zwar etwas erwar­ten. Aber wir müs­sen auch damit rech­nen, dass es anders kommt. Und das ist auch ein Glück, denn sonst gäbe es kei­ne Freiheit. Deshalb bin zumin­dest ich froh, dass es kei­ne Zeitmaschine gibt, dass wir also nicht wirk­lich in die Zukunft rei­sen kön­nen. Sonst wäre unser Leben ja vor­her­be­stimmt: ein unab­än­der­li­ches Schicksal. Aber wir kön­nen die Zukunft ver­än­dern, und zwar, indem wir in der Gegenwart aktiv wer­den. Mit Blick auf die Klimakrise (und auf vie­le ande­re Bedrohungen) bedarf es dabei des skep­ti­schen Denkens genau­so wie unse­rer Sinnvorstellungen und auch einer gewis­sen Zuversicht: weder leben wir bereits in einer wirk­lich huma­nen Welt — noch ist die Sache der Menschheit schon ver­lo­ren. Es ist noch nicht zu spät.[11] Deshalb bin ich über­zeugt: Engagement macht Sinn – und kann Sinn stif­ten.

Anmerkungen

[1]    https://www.philomag.de/artikel/kleine-menschen-grosse-fragen‑3 (Name geän­dert). Zugriff: 15.09.2023.

[2]    Etel Adnan: Die Stille ver­schie­ben, Hamburg: Edition Nautilus 2022, S. 22.

[3]    Ebd., S. 34 f.

[4]    Ebd., S. 54.

[5]    Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 117.

[6]    Der Begriff wur­de vom Geohistoriker Jason Moore popu­la­ri­siert; vgl. bei­spiels­wei­se https://jasonwmoore.com/wp-content/uploads/2021/11/Jason‑W.-Moore-im-Interview-uber-Kapitalozan-und-Anthropozan-GEO-2021.pdf. Zugriff: 15.09.2023.

[7]    Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, Bd. V, S. 819 (X II a, 3); sowie   Bd. I, S. 1232 (Ms 1100).

[8]    … im Übrigen ist das häu­fig eine sinn­vol­le­re Option als das Befolgen jener sprich­wört­li­chen, meist iro­nisch gemein­ten Anweisung: „Wenn man nicht mehr wei­ter­weiß, grün­det man ’nen Arbeitskreis“.

[9]    Adnan: Die Stille ver­schie­ben, S. 44.

[10] Die neu gegrün­de­te Humanistische Hochschule Berlin hat sich, ganz in die­ser Tradition, fol­gen­de Maxime gesetzt: „Ausbilden für eine Gesellschaft mit Sinn“; vgl. https://humanistische-hochschule-berlin.de (Zugriff: 15.09.2023). Zu einer umfas­sen­den huma­nis­ti­schen Ausbildung gehört auch deren wis­sen­schaft­li­che Reflexion, die nicht zuletzt skep­ti­sches Denken beför­dert.

[11] „Es ist nicht zu spät ist das neue Eine ande­re Welt ist mög­lich. Die rich­ti­ge Antwort auf die jeweils herr­schen­de Atmosphäre der Zeit.“ Bini Adamczak auf twit­ter, 1. August 2022 https://twitter.com/bini_adamczak/status/1553987641980252160 (Zugriff: 15.09.2023). —  Vgl. außer­dem Alfred Schmidt: Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart: Reclam 1981, S. 51.

Der Aufsatz ist auch als zitier­fä­hi­ges PDF ver­füg­bar.

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Martin Mettin
Dr. Martin Mettin ist Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Humanistische Lebenskunde an der Humanistischen Hochschule Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Bildungs- und Sozialphilosophie, Ethik sowie ästhetische Theorie und Praxis. Mit seiner aktuellen Forschung begibt er sich auf die Suche nach Menschenbildern in der Gegenwartskunst.